Manchmal habe ich das Gefühl, es schlagen zwei Herzen in meiner Brust.
Manchmal im Gleichtakt, ohne dass ich den Unterschied spüre, doch allzu oft versetzt. Es sind zwei Welten, die nicht ganz miteinander vereinbar sind, die ein Gefühl der Zerrissenheit in mir hinterlassen. Zerrissen zwischen hier und dort. Zwischen meiner Heimat in Deutschland und einem neuen Stück zu Hause – tausende Kilometer entfernt in Santa Cruz.
Als ich aus Bolivien zurückkehrte, war dieses Gefühl, nicht zu wissen, wo genau mein Herz hingehört, am stärksten. Ich habe fast ein Jahr im Herzen Südamerikas mein Leben nicht nur mit einer Gruppe anderer Volontäre, sondern vor allem mit einer Schar von Kindern geteilt, die mich mit der Zeit immer mehr in ihre Welt eintauchen ließen. Das hat verändert und geprägt.
Anfangs war alles sehr fremd. Neue Sprache, neue Kultur, neue Menschen. Alles Vertraute in unerreichbarer Ferne. Ich war komplett überfordert, hatte Heimweh, fühlte mich allein und weder nützlich noch hilfreich für die Kinder wegen derer ich doch eigentlich diese Reise angetreten hatte. Die Stunden in diesen Wochen schienen zu kriechen. Mein Arbeitsalltag bestand aus Essen vorbereiten, Wäsche waschen, Kinder bei den Schulaufgaben oder kreativen Arbeiten betreuen ohne sie wirklich zu verstehen, Berge von Geschirr abwaschen, gemeinsames Putzen mit den Kindern. Meine fehlenden Spanischkenntnisse bauten eine große Barriere auf hinter der ich mich fast stumm fühlte und die einen wirklichen Austausch mit der neuen Umgebung oft verhinderte.
Lichtblicke gab es trotzdem – ein Kinderlachen, eine jubelnde Begrüßung am Morgen, die Gespräche und Ausflüge mit den anderen Freiwilligen…
Mit der Zeit wurden die Lichtblicke häufiger, die Barriere immer niedriger. Ich verstand endlich was die Kinder mir erzählten, die Kommunikation mit den Erziehern begann besser zu funktionieren und so konnte ich anfangen ein Teil des Teams zu werden.
Die Kinder wurden aus unterschiedlichsten Gründen vom bolivianischen Jugendamt in das Heim gebracht in dem ich arbeitete. Teilweise kamen sie aus schwierigen Familienverhältnissen, aus Missbrauchs- oder Vernachlässigungssituationen, teilweise direkt von der Straße. Sie lebten nur für einen Übergangszeitraum bei uns. Manche verließen uns schon nach wenigen Stunden wieder, andere blieben zwei Monate bis entschieden war, ob sie zurück zu ihrer Familie oder in ein anderes Heim umsiedeln sollten.
Für viele Kinder war der Aufenthalt ein Prozess der Umgewöhnung. Sie mussten lernen Regeln und Strukturen zu folgen, erhielten teilweise das erste Mal in ihrem Leben Schulunterricht und waren nicht immer gewillt, die anfallenden Haushaltspflichten zu erfüllen. Gerade den Straßenkindern fiel es oftmals schwer sich in das geregelte Heimleben einzufügen. Viele von ihnen überwanden den das Heim umgebenden Stacheldrahtzaun, flohen zurück auf die Straße. Zu groß war die Verlockung der Freiheit, die Möglichkeit eines Abenteuers, der Ruf der Drogen und der Ungebundenheit, zu geringfügig der Gedanke an die Zukunft.
Schnell kam bei diesen Kindern für mich die schmerzliche Erkenntnis, dass meine Möglichkeiten für sie etwas zu verändern auf den ersten Blick verschwindend gering waren. Der Betreuungsschlüssel war zu schlecht, es gab deutlich zu wenig psychologische Angebote für die teilweise traumatisierten Kinder. Nur allzu oft herrschte Chaos und die dringend notwendige Möglichkeit auf die Kinder wirklich einzugehen blieb den Erziehern meist verwehrt.
Mit der Zeit lernte ich, dass es trotzdem einen Weg gab, wenigstens ein klein bisschen zu helfen. Ziel war nicht, die Welt zu verändern, sondern den Kindern eine große Portion Liebe mit auf ihren steinigen Weg zu geben: Wärme und Freundlichkeit ausstrahlen, Werte und Normen vermitteln, vielleicht ein Vorbild sein, Perspektiven aufzeigen, Geborgenheit und Sicherheit geben, ein Lächeln auf die Lippen zaubern, den Kindern Momente des Kindseins ermöglichen…
Ich habe viel gelernt in diesen intensiven Monaten.
Viel über mich selbst, meine Art mit Problemen umzugehen, Kontakte zu knüpfen, Freundschaften zu schließen.
Viel über mein Verständnis von Heimat, über die Dinge, die mir wichtig sind und andere, die in den Hintergrund traten.
Viel über ein anderes Land, eine andere Kultur, darüber, dass es zwar Unterschiede, aber eigentlich viel mehr Gemeinsamkeiten gibt.
Ich habe viele Freunde gewonnen, einige sind sogar fast Familie geworden.
Viele Erinnerungen, die mich zum Lächeln, aber auch zum Weinen bringen.
Ich habe gelernt, dass ich nicht alles allein schaffe, aber auch, dass schon ein Lachen helfen kann.
Ich habe Kinder kennengelernt, die mich zutiefst berührt haben und hoffe, dass im Gegenzug auch ich sie berühren, ihnen Liebe mit auf den Weg geben konnte.
So schlagen jetzt zwei Herzen in meiner Brust. Eines im Rhythmus meines wieder eingekehrten Alltags in Deutschland und das andere, welches immer noch zu Reggaeton und Kinderlachen tanzt.
— Luise