Von Theresa Fehrenbach

Noch bevor ich das Hogar betrete, sehe ich, wie die Jungs sich kabbelnd auf den Weg in die Schule machen. Isaid springt Fernando auf den Rücken; schlechte Idee. Bei seinem doppelt so großen Freund sieht er dabei aus, wie ein kleines Äffchen, nicht wie ein Angreifer.

Leandro entdeckt mich als Erster und kommt auf mich zu. Erst vor drei Monaten wurde er zu uns gebracht: „Ich komme von der Straße, Eltern habe ich nicht.“ Er ist groß und stottert ein wenig. Anfangs war er sehr aggressiv und misstrauisch. Hat mit kaum jemandem reden wollen. Jetzt schaut er mich aus seinen braunen Augen an und drückt mich so fest, dass mir die Luft weg bleibt. Ich lächle und wünsche ihm „Un buen día!“.

Nachdem ich Angel die Schuhe gebunden habe, Joselos Rucksack gefunden und alle Kleinen in die Schule gebracht habe, setzte ich mich zu unseren Erziehern. Während wir Wäsche falten und die Aktivität für morgen vorbereiten, quatsche ich mit Lisa. Sie arbeitet seit über 10 Jahren im Hogar und kennt die Jungs wie ihre eigenen 4 Kinder.

„Um fünf Uhr ist selbst in Santa Cruz mal tote Hose“, beginnt sie von ihrem Tag zu erzählen. Sie muss früh in die Uni, weil sie gerade noch eine Ausbildung zur Krankenschwester macht. Wenn Lisa um 12 Uhr dort fertig ist, lohnt es sich nicht nach Hause zu fahren, denn der Weg ist zu weit. Also kommt sie direkt ins Hogar, wo sie bis 21 Uhr arbeitet. Dann holt sie ihren Sohn von der Kinderstätte nebenan ab und hofft, ihre Mutter noch anzutreffen. Zu spät. Sie bringt den Sohn ins Bett und wäscht die rumliegende Wäsche. Endlich setzt sie sich an den Schreibtisch, um für die Prüfungen zu lernen.

Von 5 bis mindestens 24 Uhr. Lisa ist eine unglaublich starke Frau und hat die Jungs unter Kontrolle, wie kein anderer. Trotzdem frage ich mich, wie lange sie wohl noch so weiter machen kann.

Gerade  habe  ich  die  letzten  T-Shirts  verstaut,  da geht es endlich wieder zur Schule, die Jungs abholen. Manuel rennt mir freudestrahlend entgegen. Er ist 9 und wurde gerade erst eingeschult. Noch immer hat er keine Dokumente und dürfte eigentlich nicht zur Schule. Glücklicherweise hat die Direktorin mal ein paar Augen zugedrückt. Manuel ist ein sehr begabtes Kind, ihm fehlt nur jegliches Selbstbewusstsein. Obwohl er wirklich gut malen kann, hält er mir bei der Manualidad seinen Pappefisch entgegen und sagt: „Ich kann das nicht!“ Er beginnt zu weinen, schmeißt den Fisch auf den Boden und meint: „Ich kann gar nichts!“ Und nun rennt er mir entgegen und öffnet stolz sein Heft. Ich muss ihn gar nicht mehr fragen, was er heute gelernt hat, es sprudelt nur so aus ihm heraus.

Mittwoch ist Sporttag. Also rennen die Jungs die paar Meter nach Hause, feuern ihre Rucksäcke in die Ecke und holen den Ball raus. Ein jeder fängt an zu toben:

40 Jungs auf einem kleinen Fußballfeld, die Jüngsten mit ihrem eigenen Ball nebenan und die wenigen, die sich nicht zu den Fußballfanatikern zählen, klettern die Rutsche hoch.

Sie spielen, wie nur Kinder es können und scheinen die Welt um sich herum zu vergessen.

Ich geselle mich zu Christian, der allein am Rand sitzt. Während er die anderen beobachtet, konstruiert er mit einem zusammengebundenen Band die faszinierendsten Formen. Wir spielen das Fadenspiel, da fällt mein Blick auf die große Narbe an seinem Oberschenkel.

Er bemerkt meinen Blick und meint schulterzuckend: „Ist von Mama.“ Erschrocken schaue ich ihn an. Er erzählt mir, wie er mal wieder von zu Hause abgehauen ist.

Er sei nicht weit gekommen, da habe der Freund seiner Mutter ihn aufgegabelt. Als er dann nach Hause kam, setzte er sich zur Mutter an den Küchentisch. Sie kochte vor Wut und stieß ihm kurzerhand mit einem Messer ins Bein. „Es fing fürchterlich an zu bluten, also haben sie mich ins Krankenhaus gebracht. Danach durfte ich nie wieder nach Hause.“

Wie viele Jungs im Hogar hat das bolivianische Jugendamt auch ihn ins Heim gebracht. Aus Schutz vor Gewalt und Missbrauch.

Ich sehe ihn an, so gerne würde ich etwas sagen. Aber da ist nichts. Ich nehme ihn in den Arm und so sitzen wir da, bis es zum Essen klingelt.

Dann ist duschen angesagt und ich  teile  die Wäsche aus. Nacheinander rufe ich sie in den Raum und frage, wie ihr Tag war. Ruben fängt an zu erzählen. Weil aber noch 40 andere Jungs vor der Tür warten, setze ich Ruben neben mich. „Frau Chávez hat uns heute Bilder von der Salzwüste gezeigt! Wie kann es sein, dass es da aus der Erde dampft, wenn es doch so kalt ist? Während ich John eine Sporthose in die Hand drücke („Porfa!! Ich  habe heute Kunfu, ich muss mich dehnen  können!“), versuche ich es ihm zu erklären.

Nachdem die ein oder andere Handtuchschlacht beendet wurde und sich fast alle die Zähne geputzt haben, gehen langsam die Lichter aus.

Heute beginne ich im Dormitorio 5 Gute Nacht zu geben, schließlich hat mich Fernando schon beim Abendessen um seine Pizza-Massage gebeten. Als ich hineintrete, rufen 9 Jungs „Una canción, porfa!“. Während ich ihnen also Only you vorsinge, gehe ich von Bett zu Bett. Fernando bekommt seine Massage, Hernan will nur ein Kreuzzeichen. Als das Lied verklingt, ist alles still. Ich mache die Tür zu und betrete den nächsten Schlafsaal…

Gegen halb zehn verlasse ich schließlich das Hogar. Ein kühler Wind streift meine Wangen, während ich müde und zufrieden den kurzen Weg nach Hause laufe.